Rituelle Körperhaltung und die religiöse Trance

Prof. Felicitas D. Goodman

Mit der religiösen Trance, einer besonderen Variante der veränderten Wachbewußtseinszustände, die uns als Erbanlage zur Verfügung stehen, habe ich mich schon befaßt, als diese Fähigkeit des Menschen noch durchwegs als Pathologie eingestuft wurde, und wir nicht einmal den Wortschatz entwickelt hatten, um davon überhaupt sprechen zu können. Es ist eigentlich gar nicht so lange her, dieser Anfang, der für mich 1966 auf dämmerte, als ich als Studentin in einem Seminar über das Religiöse bei nichtwestlichen Kleingesellschaften zum ersten Mal von dieser besonderen Begleiterscheinung des religiösen Rituals Vorlesungen hörte. Aber was haben wir seit jenen bescheidenen Anfängen alles gelernt. Wenn ich jetzt vor einer Gruppe von neuen Teilneh-mern stehe, um sie in meiner Methode zu unterrichten, mit der sie in die überwältigend schöne, machtvolle, reiche Welt der anderen Wirklichkeit eintreten können, dann sind das nicht mehr die unbeleckten Anfänger, mit denen ich es noch vor zehn Jahren zu tun hatte. Kaum je einer ist dabei, der nicht schon mit allem Möglichen, was der „Esoterikmarkt“ feilhält, experimentiert hatte, und der nun das, was ich zu bieten habe, mit einwebt in das ihm schon Vertraute.

Was ist es nun, was man bei mir lernt? Es gründet sich auf seine 1977 gemachte Entdeckung, als mir plötzlich klar wurde, daß die vielen teils recht merkwürdigen Körperhaltungen, die in der Kunst der nichtwestlichen Welt seit Tausenden von Jahren immer wieder auftauchen, in Wirklichkeit ein äußerst subtiles Kommunikationssystem darstellen. Wir kennen sie aus Bilderbänden über „archaische Kunst“, wir gehen in Museen achtlos an ihnen vorbei, und sie schweigen. Nehmen wir aber selbst die eine oder andere Haltung ein und fügen nichts weiter hinzu als ein regelmäßiges rhythmisches Signal von einer Rassel oder einer Trommel, dann geschieht etwas ganz Dramatisches. Die Funktionen unseres Körpers schalten um und die uralte Kommunikation erwacht zum Leben. Der außenstehende Beobachter sieht uns zwar nur still stehen oder kauern, liegen oder knien, aber „wir“, ein Teil unseres Ichs, unseres Wesens, nimmt die verbor-gene Botschaft wahr, und vollzieht geflüsterte Befehle. Wir fahren in die untere Welt, streifen über eine verzauberte mittlere, oder befinden uns inmitten von Sternen und Pfauenwolken. Wir verwandeln uns in einen Jaguar und schmecken die erjagte Beute, wir fliegen als Adler über die Berge, oder kriechen als Ameise in einen klebrigen Blütenkelch. Mit wiederum anderen Haltungen kehren wir in die kosmische Harmonie zurück und heilen uns und andere. Längst versiegte Schöpferkraft erwacht von neuem, Masken entstehen unter unseren Händen, ihre bezaubernde Schönheit ein Abglanz jener ande-ren Welt, und wir feiern Tänze geleitet von den Anweisungen der Wahrsager und der weisen Frauen längst verschollener Stämme.

Soweit die Rhapsodie, das ekstatische Erlebnis. Nach jahrelanger Kleinarbeit haben wir bis jetzt vierundvierzig solcher Zauberhaltungen entdeckt. Sie kommen von Jägerstämmen und vor allem von jenen Gartenbauer genannten Völkerschaften, die kleine Stücke Land bearbeiten, nicht die offenen Felder der späteren Ackerbauer, und dazu jagen und fischen. Es sind Menschen, bei denen es keine Befehlsgewalt gibt, nicht einmal bei den Geistern, und die eine Ethik der angemessenen Handlungsweise besitzen. Ihre Rituale, und so auch die Rituale der Körperhaltungen umgeben sie mit einer festen Schutzmauer gegen die Welt des Ackerbauers mit ihrer Gespaltenheit in Gut und Böse und ihrer Angst vor allem Dämonischen.

Aber der sich allmählich enthüllende Stoff hat auch andere Aspekte. Wir haben unsere Methode ins Labor genommen und haben untersucht, was im klinisch gesunden Menschen vor sich geht während einer solchen Sitzung von fünfzehn Minuten, wenn er in einer bestimmten Haltung rhythmisch angeregt wird. Es hat sich herausgestellt, daß der Blutdruck absinkt und der Puls sich erhöht. Im Blutserum sinken Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol ab, während das Beta-Endorphin auftritt, ein vom Hirn synthetisiertes Opiat, das dem Erlebnis jene Süße verleiht, von der die Mystiker so viel zu sagen haben. Das EEG weist das Hirnstrommuster der langsamen Thetawellen auf. Im Gleichspannungs-EEG sieht man einen enormen Anstieg des sogenannten negativen Potentials auf 2000 Mikrovolt. Bis auf das Beta-Endorphin verschwinden alle diese Erscheinungen beim Verstummen der Rassel, hinterlassen aber ein allgemeines Gefühl des Erfüllt-seins und des Wohlbefindens. Wir brauchen dieses Erlebnis anscheinend vom rein Körperlichen her. Es ist ohne weiteres möglich, daß der Ekstase-Entzug für vieles Leid in der modernen Welt verantwortlich ist, von psychosomatischen Erkrankungen bis zur Süchtigkeit.

Der moderne Städter krankt aber auch noch an einem anderen Entzug. Man könnte ihn den Wirklichkeitsentzug nennen. Seine Welt ist flächig, sie hat keine Tiefe, ihre Tiefe ist eine Illusion, wie die Perspektive in einem Gemälde. Erst mit dem Eintritt in die andere Dimension, in die andere Wirklichkeit, in der Ekstase, ergibt sich die Vollendung. Es hat nie eine Gesellschaft, eine Stammesgesellschaft, eine Horde gegeben, die nicht eine Religion gehabt hätte. Und mit Religion ist eben dies gemeint: das Erlebnis der anderen Wirklichkeit. Mit den rituellen Körperhaltungen gibt es eine Möglichkeit, eine von vielen, wohl verstanden, um hier Abhilfe zu schaffen.


Rituelle Körperhaltung und die religiöse Trance
Felicitas D. Goodman
Artikel aus: FOCUS Newsletter – Informationsmedium für Bewusstseinskultur Nr. 3/1992 (Okt. 1992) – Seiten 14/15; Herausgeber: Verein Stadtzentrum, Wien