Wahr-sagen

Prof. Felicitas D. Goodman

Die andere Wirklichkeit, in welche die Seele oder ein Teil derselben entweder während einer Vision oder beim Tod eintritt, ist je nach Kultur- und Gesellschaftsform sehr verschieden. Wie aus dem ethnographischen Material (siehe unten) hervorgeht, treffen die Sammlerinnen und Jäger an jenem anderen Ort den Geist oder Geistaspekt der ihnen aus der gewöhnlichen Wirklichkeit bekannten Tiere an. Sie jagen und lieben nach dem Tod genauso wie im Leben. Die Gartenbauern sehen die ihnen aus ihrem Erdenleben vertrauten Siedlungen. Für die nomadischen Hirten der Wüste ist das Reich der Toten üppig und grün. Ackerbauern, die im Leben gut waren, knien im Jenseits anbetend vor Ihren Herrschern, wohingegen die Bösen auf immer und ewig in ihren verschiedenen Höllen verdammt sind. Die Städter schließlich sind mit einigen Verwandten und Freunden in einem Reich des Lichts vereint.

Die andere Wirklichkeit ist jedoch nicht nur eine neutrale Dimension, die man wahrnimmt oder in die man hineingerät. Sie wirkt im Gegenteil auf die Menschen ein, weil sie das Reich ist, in dem die Macht wohnt. Die Berührung mit dieser Macht kann dem einzelnen neue Fähigkeiten bescheren, Schutz, Segen und Glück bringen. Sie ist aber auch gefährlich, wie Feuer, wenn man falsch damit umgeht. Unter gewissen Umständen kann ihre Berührung auch Unglück bringen. Weil er wissen will, was in der einen wie der anderen Wirklichkeit auf ihn zukommt, macht sich der Mensch ans Wahrsagen.

Systeme und Rituale der Wahrsagung

Glück und Unglück sind nicht kalkulierbar, die Zukunft ist unsicher, die Ereignisse des täglichen Lebens bleiben undurchschaubar, und es ist entsprechend schwierig, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Zur Erleichterung dieser Situation hat sich der Mensch eine Hilfe geschaffen, die Wahrsagerei. In allen Gesellschaften werden Wahrsagerituale durchgeführt, und meist stellen sie einen wesentlichen Bestandteil der jeweiligen religiösen Systeme dar. Es sei angemerkt, daß Wahrsagen nicht notwendigerweise ein Voraussagen der Zukunft bedeutet, sondern darunter eher die Deutung und Auslegung der gerade obwaltenden Verhältnisse zu verstehen ist.

Da die Grundlage des Wahrsagens in der religiösen Trance liegt, in welcher der Wahrsager die andere Wirklichkeit aufsucht, erschien es sinnvoll, das Erlebnis mit einer neuen Methode experimentell zu erforschen. Zu diesem Zweck vollzogen meine Versuchspersonen die Haltung des mallam (Einzelheiten siehe Goodman 1989) nach, eines Wahrsagers der in Zentralnigeria lebenden Nupe.

Die Trance wird in diesem Fall durch ein monotones Rasselsignal eingeleitet. Wie aus den Berichten der Versuchspersonen hervorgeht, führt die Trance in dieser Haltung zur Erfahrung einer V-förmigen Aufspaltung des Körpers und der Wahrnehmung, was vermutlich die Voraussetzung dafür ist, daß die Verhältnisse ganzheitlich erfaßt werden können, anstatt nur Einzelheiten zu sehen. Auf das Erlebnis der Spaltung folgt oft die Verwandlung in einen Wirbelwind oder die Wahrnehmung einer Spirale, was anscheinend eine ähnliche kraftweckende Funktion hat wie früher das Anwerfen eines Autos mit einer Kurbel. So baut sich die Energie auf, die nötig ist, um die aus der Erinnerung aufsteigenden Daten ganzheitlich verarbeiten zu können. Wie ich eine Versuchsteilnehmerin sagen hörte: „Du sollst nicht schauen, sondern verstehen!“

Da es in der anderen Wirklichkeit die Dimension der Zeit entweder überhaupt nicht oder nur sehr vage gibt, ist es leicht möglich, daß der Wahrsager auch Ereignisse sieht, die in der normalen Wirklichkeit als zukünftig aufgefaßt werden, wodurch seine Aussagen äußerst komplex werden. Als Berater in sozialen und psychischen Angelegenheiten hat er eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung der seelischen Gesundheit und des allgemeinen Wohlbefindens seiner Gemeinschaft inne. Um Tedlock zu zitieren: „(Überall in der Welt) unterrichten Wahrsager Tausende von Menschen über vergangene, gegenwärtige und zukünftige Ereignisse und leiten sie bei wichtigen Entschlüssen“.


Wahr-sagen
Prof. Felicitas D. Goodman
erschienen in FOCUS Informationszeitschrift Nr. 4/99 – Herbst/Winter 1999 – Seiten 14-15
Der Text ist ein Auszug aus “Die andere Wirklichkeit – über das Religiöse in den Kulturen der Welt” (Felicitas Goodman, Trickster Verlag ISBN 3-923804-61-X)