Trance – ein Weg des Herzens zu sich selber

Susanne Jarausch

Trance ist ein Weg, über uns selbst hinauszuwachsen, um in uns Selbst, im Herzen des eigenen Wesens und gleichzeitig im Herzen aller Dinge zu landen. Trance heißt, in fühlender Verbundenheit, wertfrei und gegenwärtig, anzukommen im Sein.

Um über uns selbst, über unsere alltägliche Wahrnehmung hinauszuwachsen, müssen wir hinüber gehen (trans-ire) in einen veränderten Bewusstseinszustand, der als eigenständige Wirklichkeit erfahren wird. Auf Grund der dabei erlebten Ekstase, eine von Wohlgefühl bis extremen Glücksgefühlen begleiteten, Sinn gebenden Erfahrung, wird dieser veränderte Bewusstseinszustand auch religiöse Trance genannt. In Tranceritualen lernen Menschen auf bestimmte Signale hin, wie Trommeln, Rasseln, Klatschen, schnelle Bewegung, Drehtanz, Gerüche, das Schauen auf eine Wasseroberfläche oder in eine flackernde Kerzenflamme – alles sich monoton wiederholende Sinnesreize – in Trance zu gehen und wieder zurückzukehren.

Die Reise in diese nicht alltägliche, andere Wirklichkeit ist eine Reise in einen Bereich der Kraft, aus dem wir gestärkt und erneuert, mit Botschaften und Einsichten für unser Leben, also reich beschenkt wieder zurückkehren.

Abbildung: Der Schamane mit dem Bärengeist, eine der mächtigsten rituellen Heilhaltungen, die Felicitas Goodman entdeckte. Holzschnitzerei vom Stamm der Kwakiutl, Nordwestamerika, spätes 19. Jh. (Lommel 1980:85).

Die andere Wirklichkeit

„(Häuptling) Crazy Horse träumte und betrat die Welt, in der es nur die Geister aller Dinge gibt. Das ist die wirkliche Welt, die sich hinter dieser befindet, und alles, was wir hier sehen, ist nur ein Schatten dessen, was sich in jener anderen befindet.“ … heißt es in „Black Elk speaks“ (Neihardt 1961:85). Carlos Castaneda vergleicht die Alltagsrealität mit den Gegenständen, die sich auf einer Tischplatte befinden und die andere Wirklichkeit, das Nagual, ist alles in dem ganzen unermesslichen Raum rundherum.

Im Märchen erfahren wir vom Brunnenschacht, durch den die Gold- und Pechmarie in die Welt der Frau Holle gelangen. Sie kommen in eine zauberhafte Welt, in der es ganz normal ist, mit dem Apfelbaum und den Broten zu reden, mit den Geistwesen der Dinge zu kommunizieren. Es ist eine Welt, in der es um Gegenseitigkeit und Angemessenheit geht, was richtig und falsch ist, muss von Mal zu Mal neu entschieden werden. In einem anderen Märchen führt eine in einem hohlen Baumstumpf verborgene Wendeltreppe in die untere Welt der Regentrude, die erst wieder von Menschen, die den Weg zu ihr finden, geweckt werden kann. Im direkten Kontakt der Menschen mit den Wesen und Kräften der anderen Wirklichkeit wird hier Ausgewogenheit auf der Erde geschaffen. Anderswo muss ein Fluss überquert werden, ein Tor durchschritten oder in die Tiefen des Meeres getaucht werden, um hinüber in den Bereich der anderen Wirklichkeit zu gelangen.

In unserer modernen, aufgeklärten westlichen Welt ist diese nicht alltägliche Wirklichkeit in den Bereich des Aberglaubens, der Wundergläubigkeit und der ungebildeten Naivität abgedrängt worden. Kinder haben oft einen natürlichen Zugang zu anderen Wahrnehmungsbereichen, wird dieser nicht gefestigt wie in traditionellen Pubertätsriten oder werden ihre Wahrnehmungen gar als Unfug abgetan, verschließt sich der Eingang in die Zauberwelt meist wieder. Im Volksglauben und in den Märchen und Mythen hielten sich zwar hartnäckig die Gestalten einer anderen Wirklichkeit: Feen, Elfen, Zwerge, Riesen usw. Aber wer etwas auf sich hielt, tat gut daran, solche Dinge, die nicht der Norm der Alltagswirklichkeit und des Alltagsbewusstseins entsprachen, gar nicht erst zu erwähnen.

Letzte Reste heilmachender, tranceinduzierender Rituale in der Kirche, wie das Kerzenflackern in einer sonst dunklen Kirche, Weihrauch, monotoner, rhythmischer Singsang werden unmodern. Die Wandlung, wenn sich Brot und Wein in das wahre Fleisch und Blut Christi verwandeln, ist ein Schritt in eine andere Wirklichkeit, der eigentlich in Trance erlebt werden müsste. In der westlichen Kultur ist im Laufe der historischen Entwicklung das unmittelbare sinnliche religiöse Erleben einer anderen Wirklichkeit, zu Gunsten des Glaubens, also des theoretischen ‚Für-wahr-Haltens’, in den Hintergrund gedrängt worden.

In nahezu allen nicht westlichen Kleingesellschaften ist Trance hingegen als ein wesentliches Element religiöser Rituale eine völlig normale Erscheinung. Überdies bringt die religiöse Trance den Kulturen, die sie pflegen, eine Reihe von sozialen und physiologischen Nutzen. Gemeinsame Trance-Rituale stärken den Zusammenhalt der Gesellschaft, Wahrsage-Rituale helfen, schwierige Situationen zu bewältigen, in Heiltrancen werden Krankheiten besiegt. Im Gegensatz zur westlichen Anschauung wird in vielen Kleingesellschaften eine Wirklichkeit, die nicht von allen wahrgenommen wird, als normal betrachtet. Und diejenigen, die ihr Bewusstsein nicht ändern und keine parallele Wirklichkeit wahrnehmen können, werden als psychologisch gestört betrachtet.

Ekstase für den modernen Menschen

Die Ethnologin und Anthropologin Felicitas Goodman, eine Pionierin der Tranceforschung und gleichzeitig selbst Reisende zwischen den Dimensionen des Bewusstseins, hat den Schlüssel zum Eintritt in die andere Wirklichkeit wieder gefunden. Der Brunnenschacht, die Treppe, der Fluss, das Tor aus den Märchen wurden wieder passierbar. Sie entdeckte, dass die vielen, teils recht merkwürdigen Körperhaltungen in der Kunst der nichtwestlichen Welt, die seit Tausenden von Jahren quer über alle Kulturen immer wieder auftauchen, ein subtiles Kommunikationssystem beinhalten. Grabbeigaben, Felsritzungen, Statuetten sind eine in Form gebrachte Codierung höchsten Wissens um die andere Wirklichkeit und die Wege dorthin. Wenn wir eine dieser Haltungen einnehmen und zum gleichförmigen Rhythmus einer Rassel oder Trommel in Trance gehen, entschlüsselt sich der Code und die entsprechenden Erlebnisräume öffnen sich. Außer einem intensiven körperlichen Wohlbefinden ergeben sich eindrucksvolle Begegnungen mit der anderen Wirklichkeit. Wir erfahren Heilung und Reinigung, erleben Verwandlung, gehen auf Reisen mit unseren Krafttieren, erkunden die Räume von Geburt und Tod und bekommen Antworten in Form von konkreten Informationen und ganzheitlichem Verstehen. Wir erleben tiefe Verbundenheit mit uns und der Welt.

Mit dieser Entdeckung machte Felicitas Goodman Ekstase auch außerhalb eines festliegenden religiösen Systems und kulturellen Hintergrundes zugänglich, wodurch der Eintritt in die andere Wirklichkeit auch heutigen Menschen offen steht. Die dabei auftretenden charakteristischen Veränderungen der Körperfunktionen, welche die Grundlage für das religiöse Erleben bilden, hat sie in Laborstudien näher bestimmt.

Die wichtigste neurobiologische Forschung zur Trance wurde 1987 in Zusammenarbeit von Prof. Felicitas Goodman und Prof. Giselher Guttmann an der Universität Wien durchgeführt. Die Trance erwies sich als ein von allen anderen Bewusstseinslagen abweichender Zustand, der durch eine gleichzeitige Desaktivierung (langsame Theta-Wellen wie im Schlaf) und Aktivierung (extreme Aufladung der Großhirnrinde um denselben Betrag, wie sie im Schlaf abnimmt) gekennzeichnet ist und für welchen Guttman den Begriff „paradoxical arousal“ geprägt hat – ein Zustand entspannter Hochspannung oder hochgespannter Entspanntheit.

Das Bedürfnis nach Ekstase

Die Fähigkeit in Trance zu gehen erkannte Felicitas Goodman als eine in allen Menschen angelegte neurobiologische Erbanlage, die, sofern sie ungenützt bleibt, zu Ekstasedeprivation auf körperlicher und seelisch-geistiger Ebene führen kann. Der aus dem konsequenten Verdrängen des (religiösen) Fühlens, der Fühlungnahme mit der anderen Wirklichkeit entstehende Ekstase-Entzug, sei für vieles Leid in unserer modernen Welt verantwortlich, von psychosomatischen Erkrankungen bis hin zur Sucht, meint Felicitas Goodman. Unser Nervensystem ist auf die Vielfalt der Bewusstseinszustände angelegt und braucht möglicherweise auch jene dramatischen biologischen Veränderungen, die mit einer religiösen Trance einhergehen. Zum Anderen bedeutet Ekstase-Entzug auch Wirklichkeits-Entzug. Die Welt des modernen Städters ist flächig, hat keine Tiefe, es fehlt die Anbindung an das Wesentliche. Erst mit dem Eintritt in die andere Dimension, die andere Wirklichkeit, in die Ekstase, ergibt sich die Vollendung.

Trance als Weg zu einer ursprünglichen Religion

Die meisten rituellen Körperhaltungen stammen aus den frühen Kulturen der Menschheitsgeschichte, bei denen es keine Befehlsgewalt und hierarchische Ordnungen gibt, nicht einmal bei den Geistern. Das Verhalten wird vom Prinzip der Gegenseitigkeit bestimmt, die Ethik ist die einer angemessenen Handlungsweise. Eine Ich-Identität, wie wir sie kennen, ist noch nicht in diesem Ausmaß ausgebildet, ein verbindendes Wir ist in der Gemeinschaft und auch mit der Umwelt tragend.
Ihre Rituale, so auch die rituellen Körperhaltungen, bilden eine Schutzmauer gegen die Welt der Ackerbauer mit Ihrem hierarchischen Machtdenken und ihrer Gespaltenheit in Gut und Böse mit der Angst vor allem Dämonischen. Bei den Ackerbauvölkern sind keine neuen Haltungen mehr aufgetaucht und die althergebrachten sind allmählich verschwunden.

Eine Körperhaltung wird nicht mehr als konkrete Brücke zum Erleben der anderen Wirklichkeit gewertet, sondern als Symbol gewisser Glaubensinhalte. In dieser tiefgehenden Verschiebung des Religiösen versinkt das Geheimnis der Haltungen, die Wachtrancen wandeln sich in Besessenheitstrancen. Besitzdenken, Ab- und Ausgrenzung werden zur Lieblingsbeschäftigung der letzten paar Jahrtausende. Eine Monokultur des Alltagsbewusstseins löst die Vielfalt der veränderten Bewusstseinszustände ab, die den nichtwestlichen Kleingesellschaften noch bekannt sind.

Die Trance mit den rituellen Körperhaltungen führt uns wieder in eine ursprüngliche Verbundenheit mit uns und der Umwelt, wie sie jene frühen Kulturen kannten, jenseits dualistischer Werte-Kategorien von gut und böse und mit einem Handeln, welches, wie im Märchen der Frau Holle, von den Prinzipien der Gegenseitigkeit und Angemessenheit bestimmt ist. Wie die Goldmarie finden wir in der Ekstase einen Zugang zu einem spontanen, nicht berechnenden, überpersönlichen Instinkt, der uns leitet und erleben die eigene Individualität in einem verbindenden Wir.

Bedeutet Ekstase also nicht Kontrollverlust, sondern Kontaktgewinn?

Wenn Religion die Funktion hat, sich zurückzubeziehen auf das, was nährt, so ist es angesagt, auch in unseren Breitengraden wieder das Experiment der unvoreingenommenen Wahrnehmung – das Nehmen und Annehmen von Wahrheit – zu wagen. Eine solche Wahrnehmung, die in einer Körper-Geist-Seelischen Gesamterfahrung liegt, überschreitet die Grenzen der Ich-Identität, ohne diese auszuschalten, und schließt die Umwelt mit ein: die sichtbare, wie die unsichtbare. Dazu braucht der Organismus eine gezielte und größere Stimulation, als er meist bekommt. Und diese Stimulation ist wohl nicht die eines oberflächlichen Reiz-Angebots, wie es die Medien bieten, sondern eine Stimulation, die ihm mehr Energie zuführt, bzw. ihn dazu erzieht, mehr Energie auszuhalten.

Heilende Ganzheit

In der Trance, in der wir über unsere oft recht enge Alltagswahrnehmung hinauswachsen, öffnen wir uns Botschaften und Lösungen, die unerwartet und überraschend sein können und die mit Humor und Leichtigkeit zu uns kommen. Wir erfahren Heilung und Erneuerung auf ganzheitlicher Ebene, können Frieden schließen und Abschied nehmen von Verstorbenen und lernen unsere Begleiter in der anderen Wirklichkeit kennen. Wir kommen in Kontakt mit kreativen Kräften in uns, spüren die Lebensfreude, wenn wir auf Delfinen reiten, kosten die Freiheit auf den Flügeln des Adlers, lernen Unbeschwertheit und Freude vom Bärengeist. Wir erfahren unsere eigene Größe, wenn wir uns in den Weltenbaum verwandeln oder schwingen in der alles bergenden und annehmenden Liebe einer Allmutter. Eingebettet sind die konkreten Erfahrungen in dem Erleben der Ekstase, welches kaum in Worte zu fassen ist. Ekstase als das Erleben der Seele von sich selbst ist ein ganzheitliches Aufgehen im eigenen Sein und dem Sein an sich. Ekstase ist das Heraustreten aus Zeit und Raum zu einem Erleben tiefster Verbundenheit, der Einheit des Ich und der Welt, zeitlos, grenzenlos. Nach der Trance schwingt tiefe Stille, Wohlbefinden bis intensive Glücksgefühle wie ein Nachhall von der Berührung mit der Ewigkeit, im eigenen Wesen nach. Aus der Erfahrung und dem Wissen um die Einheit aller Dinge kann Begegnung auf der Basis von Liebe und Verbundenheit, Respekt und Achtung stattfinden. Wenn das Herz an ein größeres Ganzes angebunden ist, kann es in fühlender Präsenz auf die Wirklichkeit antworten.

„Das Ritual ist die Regenbogenbrücke, über die wir zu den Geistern gelangen können und über die sie in unsere Welt herüberwechseln. Warum sie das möchten, ist nicht ohne weiteres klar. Es liegt wohl daran, dass sie wissen, was wir in der westlichen Welt vergessen haben, nämlich, dass die gewöhnliche und die andere Wirklichkeit zusammengehören, als zwei Hälften eines Ganzen. Nur wenn beide Hälften zusammengefügt sind, ergibt sich die Welt als Ganzheit, eine Welt, in der es sich zu leben lohnt.“ (Aus dem Buch “Wo die Geister auf den Winden reiten“ von Felicitas Goodman)

Literatur

Goodman, Felicitas D. 1989: Wo die Geister auf den Winden reiten. Freiburg i. Br., Hermann Bauer.
Goodman, Felicitas D. 1994: Die andere Wirklichkeit – über das Religiöse in den Kulturen der Welt. München, Trickster.
Goodman, Felicitas D. 1997: Ekstase Besessenheit Dämonen – Die geheimnisvolle Seite der Religion. Vorwort von Kaye Hoffman. Gütersloh, Gütersloher Verlagshaus.
Guttmann, Giselher. 1990: Zur Psychophysiologie der Bewusstseinssteuerung. Meditation-Trance-Hypnose: Wurzeln und biologische Korrelate. Wien, Gerold.
Guttmann, G., Goodman, F.D., Korunka, C. Bauer, H. & Leodolter, M. 1988: DC-Potential Recordings During Altered States of Consciousness. Institut für Psychologie, Universität Wien, Research Bulletin.
Neihardt, John G. 1961: Black Elk Speaks. Lincoln, Universtity of Nebraska Press.
Lommel, Andreas. 1980: Schamanen und Medizinmänner. München, Callwey.


Jarausch, Susanne 2008. Trance: Ein Weg des Herzens zu sich selber.
In: Kulturverein Schloss Goldegg (Hg.): Werte, Wandel und das Glück.
Tagungsband der 27. Goldegger Dialoge, Gesundheit ist lernbar. Goldegg: 120-127.
www.schlossgoldegg.at