Eine Esche habe ich gesehen, den mächtigen Baum Yggdrasil

Prof. Felicitas D. Goodman

Im Frühjahr 1993 bekam ich einen sehr guten zweisprachigen Katalog über vorkolumbianischeSkulpturen aus Mittelamerika geschenkt. Er enthielt eine Reihe von mir unbekannten Haltungen, darunter eine ganz besondere, die sowohl in einer weiblichen als auch männlichen Variante dargestellt war. Da in einem Seminar für Fortgeschrittene, das im Juli stattfinden sollte, auch ein männlicher Teilnehmer war, entschloß ich mich, diese Haltung mit der Gruppe zu erforschen. Die in der weiblichen Statuette dargestellte Frau kniet, wobei sie auf ihren Fersen sitzt. Ihre linke Hand liegt aan ihrem Körper, angehoben und die Hand aufwärts gedreht. Ihr Mund ist leicht geöffnet. Die männliche Statuette zeigt im wesentlichen dieselbe Haltung, außer daß der Mann mit angezogenen Beinen und flach auf dem Boden aufliegenden Fußsohlen sitzt. Sein Mund ist geschlossen.

Während der Morgensitzung haben wir eine Metamorphose gemacht, wobei wir die Haltung des gefleckten Jaguars eingenommen haben. Als die Teilnehmer dann die Kiva verließen, blieb die letzte, Mary R., neben mir stehen und sagte: „Weißt du, heute früh ist mir etwas Eigenartiges passiert. Nachdem du mit dem Rasseln aufgehört und die Geister hinausgeführt hast, sah ich einen riesigen Baum, der sich aus der Mitte der Kiva wie ein Mammutbaum erhob. Er war sehr groß, seine Spitze ragte über das Dach der Kiva hinaus, sodaß ich sie nicht sehen konnte. Es war kein dichter Baum, er war eher luftig, rötlichbraun und hellbeige und sein Blattwerk war in fahlem Hellgrün mit Weiß dazwischen. Ich konnte seine wuchtigen Wurzeln sehen, sie waren wie Äste, die aus der Erde wuchsen, so wie bei alten Bäumen. Ich hatte das Gefühl, daß er dir folgen würde, aber er tat es doch nicht, obwohl er sich zu bewegen schien.“ Meine Schlußfolgerung war verständlicherweise, daß die neue Haltung den Lebensbaum beinhalten könnte, diese alte Kosmologie, der wir schon früher, beispielsweise in der Galgenberghaltung begegnet sind und daß die Geister vielleicht besorgt waren, ich würde dies nicht erkennen, und daher eine erklärende Vision vorausschickten. Früher ist mir dies schon einmal passiert, ich habe davon in meinem Buch „Wo die Geister auf den Winden reiten“, im Kapitel über das Erlebnis im Museum, berichtet. Wie wir sehen werden, hatte ich unrecht. Es war keine Schwierigkeit zu verstehen, daß wir es mit einem Lebensbaum zu tun hatten. Tatsächlich hat Mary R., der der Baum an diesem Morgen geoffenbart wurde, ihn sehr deutlich erlebt. Sie erzählte, daß sie, nachdem sie sich in eine Steinstatue verwandelt hatte, folgendes erlebte: „Etwa zu diesem Zeitpunkt kam eine lindgrüne Schlange mit einem weißen Bauch in den Raum, der Boden war ebenfalls weiß, es war nicht wirklich ein Boden; jedenfalls kam sie quer über den Boden und hat sich mir gegenüber gesetzt und mich nur angeschaut. Sie hatte keine besonders hervorstehenden Augen, dafür aber ein enormes Maul und ihr Maul war rot… Dann richtete sich die Schlange auf, wand sich, kam geradewegs her und schaute mich an, sie öffnete ihr Maul und kam gerade auf mich zu.Ich dachte, sie kann mich nicht beißen, da ich aus Stein bin. Aber sie fuhr mit der Bewegung fort, als ob sie versuchen wollte, mir etwas rüberzubringen… Dann kam die Schlange gerade auf mich zu und sprang in meinen Kopf. Meine Augen wurden sehr rot und dann war ich die Schlange auf dem Boden. Sie war zweimal so groß als vorher, als sie hereinkam, und sie begann sich auf die Türe zuzubewegen und ich konnte einen Blick aus der Türe hinaus ins Freie werfen…. Ich konnte sehr weit sehen, ich sah einen Adler am Himmel und sehr schwarze Berge, auf den Bergen war ein gelbes Heiligtum… und ich konnte durch die Augen des Adlers sehen und durch den Adler strömte Energie. Die Schlange ist durch den Eingang hinausgekrochen, in einen Dschungel mit so einer Art weißem Boden. Sie bewegte sich auf einen enormen Baum zu, der war tiefschwarz, glänzend schwarz, wie poliertes Ebenholz, aber er war lebendig, er hatte Blätter; die Schlange wand sich um ihn herum, wie die Schlangen um den Eskulapstab und bewegte sich dann hinaus auf einen Ast, wand sich um den Ast und sah in die Ferne. Als das alles geschah, wurde ich selbst mehr und mehr zur Schlange, die hinaus in den Dschungel blickte. Dann glaubte ich, ein gewaltiger Bär schwanke auf die Lichtung, aber der Bär verwandelte sich in einen riesigen schwarzen Jaguar und kam herauf zum Baum. Er stellte sich auf seine Hinterpfoten und kratzte mit seinen Klauen am Baum, in perfekten Linien am Stamm hinunter, und als er das tat, kam eine milchig-weiße Substanz aus dem Baum und begann hinunterzutropfen… Ich fühlte mich so wunderbar. Es war diese Substanz, die aus dem Baum tropfte, die dieses Gefühl ausmachte, sie war sehr nährend. Und dann hat sich der Panther, der riesig war, etwa 2,5 Meter lang, in die schwarzen Wurzeln dieses Baumes gelegt und wurde zu einem Teil der Wurzeln.“ Mary R.s Erlebnis schien genau mit der ungarischen Überlieferung vom Weltenbaum übereinzustimmen: Es gibt in der Welt einen wunderbaren hohen Baum, der hat neun weite Äste, jeder Ast so groß wie ein ganzer Wald. Wenn die Äste schwingen und rauschen, dann erheben sich die Stürme. Der Baum ist so wunderbar hoch, daß sich nicht nur der Mond in seinen Ästen verbergen kann, sondern auch die Sonne... Der wundersame Baum wächst an einer besonderen Stelle, sodaß ihn nur ein Taltos (ungarischer Schamane) finden kann. Andere hören nur davon, können ihn aber nie sehen. (Dioszegi 1958: 270-271) Das gewaltige Ausmaß des Baumes kommt auch aus dem Erleben von D. L. heraus, der in den nebeligen Ästen des Baumes gefangen ist und in diesen in Rissen, die so groß sind wie der Grand Canyon, herumspringt. Marys Bericht beinhaltet aber auch Elemente, die in der ungarischen Erzählung nicht erwähnt sind. Aus der europäischen Überlieferung kannte ich die kostbare Flüssigkeit, den berühmten „Honig“, der den nordischen Lebensbaum, Yggdrasil, hinunterströmt, aber ich war mir nicht über die Zusammenhänge des Lebensbaumes mit der Schlange und dem Adler im Klaren. Natürlich sind wir im Zuge unserer Forschungen erfreut, auch nur kleine Übereinstimmungen zwischen unseren Erfahrungen und bekannten Überlieferungen finden zu können. Dies ist eine äußerst zufriedenstellende Bestätigung des Wertes unserer Arbeit.

Aber ich wollte in der Literatur noch weitersuchen: Vielleicht gab es da noch mehr. Und tatsächlich war diese Suche äußerst erfolgreich. Zum einen zeigt eine Maya-Literatur eine Verbindung zu den Schlangen auf: Im Zentrum der Welt, entlang der axis mundi, wuchs der Yaxche, der erste Baum, ein gewaltiger Kapokbaum, dessen Krone sich in den Himmelsschichten verzweigte… In den stachelbesetzten Ästen des Weltenbaumes, dessen Rinde einer Krokodilshaut gleicht, saßen himmlische Wesen, halb Vogel, halb Schlange. (Raetsch 1986:15) Außerdem gibt es eine tugusische (Sibirien) Überlieferung (Findeisen 1957,113) nach der der Baum gerade während eines schamanischen Rituals wächst und die Höhen des Himmels erreicht. Findeisen erwähnt auch (ebenda, 116) die Gegenwart der Schlangen für die tugusischen Golden: „Die Wurzeln des Baumes sind riesenhafte Schlangen.“ Dies erinnert mich an den Bericht von Theresa, einer anderen Teilnehmerin, über einen Geisttänzer, der ein Schlangenpaar zu ihr geleitet hat, welches in ihre Vagina zu kriechen begann, was dem Erleben von Schlangen als „Wurzeln“ gleich zu kommen scheint. Die erstaunlichste von Findeisen berichtete Beobachtung war jedoch eine kurze Beschreibung eines Tanzes des sibirischen Jenissej-Schamanen. Diese Schamanen besitzen ein Zepter, welches eine Darstellung des Lebensbaumes ist. Während dieses besonderen Rituals (ebenda, 115) stößt der Schamane seine Stab, das Double des Baumes, in die Erde und „macht dann ihn abstoßende Bewegungen nach vorn, worauf ebensolche nach rechts und links folgen.“ Die Haltung der rechten Hand unserer Statuetten kann auf genau dieselbe Art beschrieben werden, nur daß es sich in unserem Fall um eine unbewegliche Darstellung handelt. An diesem Punkt war mir immer noch nicht klar, was die Absicht dieses Rituals war. Warum haben die religiösen Führer vom alten Jalisco an der Pazifikküste den Weltenbaum angerufen? War es eine jahreszeitliche Feier? Eine Initiation? Eine Ermächtigung? Rätselhaft war für mich auch ein von Judy berichtetes Erlebnis: „Ich sah jemanden in einem langen Gewand vor mir. Er hielt eine Trommel vor sich. Er schlug sie nur ein Mal, es war also keine Trommel, eher ein Gong. Er schien so eine Art beginnenden Wettkampf anzukündigen. An diesem Punkt bin ich durch einen langen, dunklen Tunnel hinuntergegangen, es war nebelig oder rauchig, was genau konnte ich nicht erkennen. Am Ende des Tunnels ging etwas vor sich. Da war eine Gestalt mit einer stilisierten Maske, die ein Kind am Boden gedreht hat, es war auf Händen und Knien. Das maskierte Wesen glich einem Vogelmenschen und wollte sichtlich das Kind fangen oder zu fassen kriegen… Eine Hitzewelle lief durch meine linke Seite und ich war wieder bei dem, was ich für einen Wettkampf hielt, nur daß ich dieses Mal ein Teil des Kampfes zu sein schien, vorher habe ich ihn eher beobachtet, und ich war die Vogelfigur. Meine rechte Hand war meine Verteidigung, meine linke Hand meine Kraft. Ich wollte das Kind zu fassen kriegen. Dann wurde ich unter großen Schmerzen ein Adler und war hoch oben.“

Jetzt erkannte ich, daß hier die Antwort auf meine Frage über die Art des Rituals, dem wir beigewohnt hatten, vor mir lag. Jeder, der mit der Literatur über den Weltenbaum vertraut ist, kennt den Zusammenhang zwischen dem Baum und der Seele des Schamanen und der Vogelmutter, die diese aufzieht. Wie Findeisen aus der tungusischen Überlieferung berichtet: „In den Himmeln gibt es einen Baum, der Yjyk-Mas heißt. Seine Spitze reicht bis in den neunten Himmel, seinen Umfang kann niemand bestimmen. Von der Wurzel bis oben zur Spitze ist dieser Baum mit Auswüchsen bedeckt, aber klare Zweige besitzt er nicht. In diesen Auswüchsen des Baumes entstehen die Schamanen, die Schamaninnen, alle diejenigen, die mit Zauberei und Hexenkraft bekannt sind.“ (ebenda, S. 112). In anderen Worten, das was Judy gesehen hat, war ein Ritual, bei welchem die religiösen Führer dieses Jalisco-Stammes den Weltenbaum heraufbeschwört hatten. Die Seele des Schamanen wurde von seiner Vogelmutter aufgezogen und nun war es für den Stamm an der Zeit, dies zu übernehmen und, wie Pam es sah, das Baby zu wickeln.

„In einer unterirdischen Höhle sah ich eine indianische Frau in Weiß. Es war, als ob ich auf ein Stück Erde schauen würde, und aus dieser Höhle gingen eigenartige Farben von Erdschichten aus… Dann waren da noch einige andere Frauen, die anscheinend mit der ersten zusammen etwas vorbereiteten. Ich wußte, daß sie da waren, konnte sie aber nicht festmachen, damit ich sie wirklich sehen konnte und da schien auch nicht genug Platz für alle zu sein. Dann barsten gelbgrüne Wurzeln durch die Erde und bedeckten die Höhle. Sie schossen aus der Erde und wurden zu einem großen gelbgrünen Baum, ein grasartig aussehender Baum… Unter dem Baum war die Frau aus der Höhle und schien ein Bündel in der Hand zu halten. Ich dachte, es wäre ein Baby. Die anderen Frauen waren wieder rund um sie herum und wieder konnte ich sie nicht fest genug kriegen, um sie wirklich ausmachen zu können.“

Die größte Überraschung für mich war jedoch eine Reihe von Literaturstellen aus der Poetischen Edda, die sich auf den Lebensbaum, Yggdrasil, bezogen. Die Edda ist eine Sammlung nordischer Mythen, die im 12. und 13. Jahrhundert, unmittelbar vor der christlichen Missionierung der alten nordischen Welt auf Island niedergeschrieben wurde. „The mighty tree moist with white dew“ (Der mächtige Baum, feucht mit weißem Tau), heißt es auf Seite 4, was uns an die weiße Flüssigkeit erinnert, die Mary R. ebenfalls gesehen hat. Es gibt einen Hinweis auf den Adler „An eagle sitteth on Yggdrasil`s limbs, whose keen eyes widely ken“ (Ein Adler saß auf Yggdrasil’s Ästen, dessen scharfe Augen weit umherschauten) (S.32). Am wichtigsten ist jedoch eine Aussage, die ein Erlebnis erhellte, das alle an diesem Nachmittag in Cuyamungue teilten: jeder fühlte eine brennende Hitze. Beispielsweise Charlies: „Ich brannte vor Hitze und schwitzte wie ein Schwein, meine Fersen sind so heiß, daß sie geradewegs durch mein Hinterteil brennen.“ Und D. L. sagt, „Mir war so warm, ich dachte ich müsse sterben. Innerlich habe ich heftig gezittert, ich glaube nicht, da· mir jemals so heiß war. Meine Temperatur muß dabei auf 43 Grad erreicht haben.“ Als Erklärung finden wir in der Edda ein schönes Zitat, das sich auf den Lebensbaum als „Brücke der Götter“ bezieht: „Thor wades through every day, to doom when he fares, ’neath the ash Yggdrasil, for the bridge of the gods is ablaze with flames, hot are the holy waters“ (Thor watet durch jeden Tag, zu seinem Verhängnis, wenn er fährt, unter der Esche Yggdrasil, da die Brücke der Götter in Flammen lodert, heiß sind die heiligen Wasser) (S. 59).

Da ist noch eine von allen Teilnehmern gleichermaßen geteilte Beobachtung, die aber nicht in der Literatur Bestätigung findet, und zwar die Wahrnehmung der enormen Energie, die von dem Baum ausstrahlt. „Ich habe eine große Kraft gespürt, als ob ich ein Energiefeld berühren würde“ (Sandra). „Die Kachina hat Energie in meinem Kopf gesendet, sie ist durch meinen ganzen Körper gewandert“ (Theresa). „Die Energie schien hereinzukommen“ (Charlies). Die Gegenwart der ungeheuren Energie um den Baum erklärt, glaube ich, sein Erscheinen in der Kiva schon bevor wir die zugehörige Haltung gemacht haben. Uns ist ein ähnliches Phänomen bekannt. Von allen heilenden Geistern ist der Bärengeist erfahrungsgemäß der mächtigste. Er kann sich ebenfalls in durch eine eigentlich nicht verwandte Haltung vermittelte Vision hineindrängen, wenn wir später eine Sitzung mit dem Bärengeist vorhaben.

Diöszegi, Vilmos, 1958 A sámánhit emléki a magyar népi müveltségben. Budapest: Akadémiai Kiadó
N.N., 1992. Von Küste zu Küste – From Coast to Coast: Prä-Kolumbianische Skulpturen aus Meso-Amerika. Kassel, Weber & Weidmeyer
Findeisen, Hans 1957, Schamanentum. Stuttgart: Kohlhammer Hollander, M., Übersetzer, 1984
The Poetic Edda, Austin: University of Texas Press
Raetsch, Christian, Herausgeber, 1986, Chactun: Die Götter der Maya, Köln: Diederichs


Eine Esche habe ich gesehen, den mächtigen Baum Yggdrasil
Prof. Dr. Felicitas D. Goodman
Artikel aus: FOCUS Newsletter – Informationsmedium für Bewusstseinskultur Nr. 1/1994 (Feb. 1992) – Seiten 6/7
Herausgeber: Verein Stadtzentrum, Wien