Schamanismus und das Erlebnis der Seele

Prof. Felicitas D. Goodman

Die Seele hat keine Dimension, vergleichbar mit einem Punkt, der durch zwei sich kreuzende Linien entsteht …

Wie ich an anderer Stelle berichtet habe (Goodman, 1990, Wo die Geister..) wurden die neurophysiologischen Vorgänge bei dieser rhythmischen Stimulation in Zusammenarbeit mit den Universitäten München und Wien im Labor untersucht. Die aus der Stimulation resultierenden Veränderungen sind dramatisch: die elektrischen Aktivitäten des Gehirns wechseln von Beta Wellen, die dem gewöhnlichen Wachzustand zugeordnet werden, zu der niedrigen Frequenz und den hohen Amplituden und Mustern der Theta Wellen. Im Blutserum sinken die Anzahl der stressverwandten Komponenten wie Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol. Gleichzeitig fängt das Gehirn an, Beta-Endorphine zu produzieren, die zu der Gruppe der körpereigenen Opiate gehören. Diese sind auch zuständig für das Wohlbefinden, bzw. für die enorme Euphorie, die während einer ekstatischen Trance erlebt werden kann. Zusätzlich zu diesen Phänomenen sinkt der Blutdruck und der Puls beginnt gleichzeitig zu rasen. Aus medizinischer Sicht gesehen ergibt dieser Vorgang einen paradoxen Effekt. Bei klinisch gesunden Personen setzen diese Reaktionen mit dem Beginn der rhythmischen Stimulation ein. Mit dem Beenden des rhythmischen Stimulus setzt auch die sofortige Rückkehr zu den medizinisch normalen Werten ein. Diese Reaktion scheint ein Teil unseres genetischen Erbes zu sein. Das zu der Herbeiführung der ekstatischen Trance dienende Ritual als Bestandteil der Kultur der jeweiligen Gruppe bildet immer das zentrale Thema im religiösen Zusammenhang. Dieses Ritual kann ein Tanz sein, das Tragen von Masken, das Vortragen oder Singen von heiligen Texten oder ähnlichen Aktivitäten.

Im Verlaufe unserer Forschungsarbeit entdeckten wir jedoch eine Art von Ritualen, die nicht an bestimmte Stammeskulturen gebunden sind. Wir fanden heraus, daß ungewöhnliche Körperhaltungen, die seit Jahrtausenden in der nicht-westlichen Kunst dargestellt wurden, den empirischen Faktor liefern können, der nötig ist, um die oben beschriebenen neurophysiologischen Veränderungen zu unterstützen und somit den Einstieg in die andere Wirklichkeit zu ermöglichen. Im anthropologischen Sinne heißt das, daß wir einen Weg zur partizipierenden Beobachtung gefunden haben. Diese nicht-gewöhnlichen, rituellen Körperhaltungen fördern Erlebnisse wie z.B. Seelenreisen in die untere, mittlere oder obere Welt, können Wandlung in Tiergestalt bewirken, heilende Geister oder andere Bewohner dieser anderen Wirklichkeit herbei rufen. Durch anthropologische Feldstudien wurde belegt, daß solche ungewöhnlichen, rituellen Körperhaltungen in vielen religiösen Ritualen aufgenommen und integriert wurden. So wird deutlich, daß das Erlebnis der Seele auch für einen modernen westlichen Menschen möglich ist. Es gibt viele Gründe dafür, warum im heutigen westlichen Denken das Wissen um die Erfahrungsmöglichkeit der Seele nicht mehr beachtet wird, in das Vergessen verdrängt wurde. Ein Grund hierfür ist ohne Zweifel die Tatsache, daß sich, als die Griechen der Antike ihr Schriftsystem entwickelten, auch ihr Wirtschaftssystem vom Gartenbau zum Ackerbau und zur Tierhaltung veränderte. Vergleichbare Studien von Religionen zeigen deutlich, daß wenn diese Art von kultureller Verlagerung stattfindet, die Seele nicht mehr frei ist, um herumzustreifen, weil der kulturelle Kontext dafür nicht mehr vorhanden ist. Die vielfältigen, traditionell verankerten Möglichkeiten der Seele wurden in das Reich der Mythologie und der Dichtung verbannt. Unter den Dichtern der sogenannten klassischen mystischen Schule Griechenlands tauchten zahlreiche Vermutungen über die Seele auf, ohne daß auf eine Erfahrung mit ihr zurückgegriffen werden konnte. So gab es Spekulationen, daß die Seele z.B. aus einer dem Staub ähnelnden Substanz bestehe, aber es gab kein Wissen mehr, nicht einmal die Ahnung von den Qualitäten und Aktivitäten der Seele.

Die Traditionen der griechischen Gartenbauer haben nicht bis in die Zeit der griechisch-römischen Klassik überlebt. Hätten die Humanisten über das Wissen dieser Tradition verfügt, wären das Verhalten und die Einstellung der westlichen Eroberer während der Kolonisierung und Plünderung der nicht-westlichen Welt vielleicht respektvoller gegenüber dem Wissen um die Existenz und das Erleben der Seele gewesen – aber angesichts der westlichen Arroganz und Habgier würde ich darauf nicht wetten.


Schamanismus und das Erlebnis der Seele
Dr. Felicitas D. Goodman
Artikel aus: FOCUS Informationszeitschrift Nr. 3/98 – Herbst/Winter 1998 – Seiten 8-10
Herausgeber: Verein Stadtzentrum, Wien