Geburt – Tod – Transformation

Prof. Felicitas D. Goodman

Ein Ritual ist ein soziales Ereignis, eine Begegnung, bei der alle Teilnehmer eine exakt eingeübte Rolle zu spielen haben. Es findet zu und innerhalb einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort statt und besteht aus einer vorher festgelegten Folge von Einzelereignissen, die Teile des Ganzen sind. Ein einmal begonnenes Ritual wird zwangsläufig zu Ende geführt. Im Zusammenwirken mit anderen vollzieht der Mensch im täglichen Leben eine Vielzahl von Ritualen. Wir wollen uns hier auf solche beschränken, die sich auf die nichtalltägliche, religiöse Seite des menschlichen Lebens beziehen.

Es gibt unzählige religiöse Rituale, und Sozialwissenschafter haben verschiedene Versuche unternommen, sie zu kategorisieren. Den wohl erfolgreichsten Versuch hat der holländische Sozialwissenschaftler Arnold van Gennep gemacht. Sein schmaler, 1909 in Paris erschienener Band Les Rites de Passage (Übergangsriten) hat viele Neuauflagen erlebt und ist in zahlreiche Sprachen übersetzt worden. Das Geheimnis seines Erfolgs liegt darin, daß Van Gennep ein Schema vorlegt, das eine höchst verwickelte Aufgabe verführerisch einfach erscheinen läßt. Angesichts der verwirrenden Vielfalt der Rituale, die es auf der ganzen Welt gibt, meint er, sie ließen sich alle drei verschiedenen Typen zuordnen: Ritualen der Trennung, des Übergangs und der Einverleibung. Der Mensch wird sein Leben lang von Ritualen begleitet. Sie begleiten einschneidende Ereignisse wie Geburt, Pubertät, Heirat und Tod, indem sie ihnen eine besondere Weihe verleihen und den Übergang aus einem sozialen Status in den nächsten erleichtern. Van Gennep hat den Begriff des Übergangsrituals oder rite de passage formuliert, ohne den noch heute kein Journalist bei der Beschreibung einer Bar Mitzvah oder der Amtseinführung des amerikanischen Präsidenten auskäme.

Das Van Gennepsche Schema ist seit seiner Veröffentlichung kaum kritisiert worden. Es ist so allgemein formuliert, daß man jedes Ritual leicht in die eine oder die andere Kategorie einordnen kann. Spätere Überlegungen haben sich stattdessen eher der inneren Natur des Rituals zugewandt. Freud z.B. schloß aus Beobachtungen an seinen Patienten auf das Ritualverhalten ganz allgemein. In seinem Aufsatz „Zwangshandlungen und Religionsübungen“ (1907b) stellt er die Hypothese auf, die für das Ritual bezeichnenden Wiederholungen deuteten auf eine Zwangsneurose hin. Da alle Menschen Monat für Monat und Jahr für Jahr zahlreiche, von Wiederholungen gekennzeichnete Rituale ausführen, kann Freud hinsichtlich der allgemeinen seelischen Gesundheit und Stabilität des Menschen nicht besonders optimistisch gewesen sein.

Der Kulturhistoriker Jan Huizinga, ein Landsmann Van Genneps, sieht die Sache etwas weniger duster (1939). Er betrachtet jedes Ritual als ein in feste Form gebrachtes Spiel. Eine Generation nach ihm sieht Victor Turner (1969) die Elemente des Rituals um zwei Pole angeordnet, den Pol der sittlichen und sozialen Ordnung und den Pol der Sinne. Seiner Auffassung nach benutzen die Teilnehmer an einem Ritual sinnliche Elemente, wenn sie etwas über die sittlich-soziale Ordnung aussagen wollen. Am Beispiel eines uns allen bekannten Rituals, der christlichen Taufe, läßt sich Turners Absicht am leichtesten verdeutlichen. Das sinnliche Element ist hierbei das Wasser, das Wegwaschen der Sünde die sittlich-soziale Aussage. Die Analyse erfolgt auf der Grundlage des Strukturalismus, wie ihn der französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss formuliert hat. Bei der Analyse komplizierterer Rituale der afrikan. Ndembu hat Turner allerdings erfahren müssen, daß sich so viele Elemente um seine hypothetischen Pole angesammelt hatten, daß jede Art von Struktur unsichtbar wurde. Ironischerweise hat er seinem Buch den Titel The Forest of Symbols gegeben.

Derartige Probleme der Analyse legen nahe, die Sache einmal von einer anderen Seite anzugehen. Beim Vergleich vieler verschiedener Rituale habe ich den Eindruck gewonnen, daß eine noch nicht näher erkannte Tiefenstruktur in ihnen wirksam ist, welche Ordnung in die Elemente bringt, statt daß diese sich regellos um zwei Pole sammelten. Bei der menschlichen Neigung, solche Tiefenstrukturen über lange Zeiträume hinweg beizubehalten – eine der Linguistik wohlbekannte Erscheinung -, kann die Tiefenstruktur unter Umständen uralt sein. Die Frage ist nun, wie man Zugang zu einer solchen verborgenen Tiefenstruktur bekommen kann.

Die Methode, die ich zu diesem Zweck entwickelt habe, beruht auf Einsichten aus der generativen Semantik. (Die Einzelheiten habe ich in meinem Aufsatz, “Touching Behavior: The Application of Semantic Theory to a Problem of Anthropological Analysis“, 1976, beschrieben.) Zunächst befaßte ich mich mit den Ritualen eines bestimmten Kulturgebiets, wobei ich Julian Stewards Handbook of South American Indians benutzte. Dann stellte ich mir die Frage: Was tun die Menschen eigentlich genau genommen in diesen Ritualen? Es war davon auszugehen, daß die vielen Einzelhandlungen (wobei es sich immer wieder um ein gegenseitiges Berühren handelte), die zahlreichen Elemente einer rituellen Handlung (performance), nicht willkürlich aus einem umfangreichen kulturellen Vorrat herausgegriffen sein konnten. Bei der Dekonstruktion der Rituale und der Reihung ihrer Elemente zu logischen Abfolgen gab sich die gesuchte Tiefenstruktur plötzlich zu erkennen. Es ist gut möglich, daß sie deshalb noch niemandem aufgefallen ist, weil Ritualstrukturen bisher ausschließlich von Männern analysiert worden sind. Was mir als Frau äußerst sinnvoll erschien, sobald ich es einmal erkannt hatte, war die Tatsache, daß es sich bei dem verborgenen Muster um das ergreifende Drama der Geburt handelte. Klar und deutlich stellen die Rituale eine Transformation der Geburtsvorgänge ins Rituelle dar: angefangen bei den Wehen der Mutter über das Ausstoßen der Frucht aus dem Schoß bis hin zum Willkommenheißen des Neugeborenen, zu seiner Versorgung und schließlich dem Anlegen an die Mutterbrust zur ersten Nahrungsaufnahme. Wiewohl der Geburtsvorgang den Mittelpunkt des Ereignisses bildet, handelt es sich jedoch nicht um ein ausschließlich weibliches Drama. Denn mit Einsetzen des Geburtsaktes erscheinen die Totengeister Männern wie Frauen zur Aufwartung. Und die Männer bringen das Drama zum Abschluß und beginnen gleichzeitig in einer rituellen Andeutung der Zeugung den Kreislauf von neuem.

Das religiöse Ritual stellt meiner Meinung nach die erhabenste Form menschlicher Kommunikation dar und die Entdeckung der genannten Tiefenstruktur weckt ein Gefühl der Achtung das über den früheren dürren Analysen völlig verlorengegangen war. Man kann sich das, was Menschen in ihren Ritualen geschaffen haben, als eine Feier des Menschseins vorstellen, ein riesiges Gemälde, das zeigt, was den Menschen zum Menschen macht. Dies zu erkennen, war deshalb so schwer, weil die Schöpfer des Gemäldes eher surrealistisch gearbeitet haben (wie, sagen wir, Salvador Dali) als realistisch (wie, z.B.,Michelangelo Buonarrotti). Denn obgleich sie das Grundschema nie außer acht lassen, gehen sie doch mit den Einzelheiten in denkbar großzügiger Weise um. In einem australischen Ritual z.B. ist der Mann einmal männlich, dann stellt er ein Mädchen dar schließlich wird er von einer Jamswurzel vertreten. Oder man geht zu einer Art Kurzschrift über – in der gleichen Weise, wie Abendmahl und Heilsgeschichte in den engen Rahmen einer Messe eingepaßt werden, wobei das Festmahl aus einer Oblate und einem Schluck Wein besteht. Um es noch einfacher zu sagen: das Ritual versetzt uns auf eine völlig andere Ebene der Wirklichkeit, in eine ebenso geordnete Welt, wie es unsere Alltagswelt ist, aber die Regeln sind andere, und die Gesetze der Alltagswirklichkeit haben keine Gültigkeit. Der Säugling erscheint plötzlich als Initiand, der Schmerzen – die Wehen – erleiden muß; oder das Kind ist der Patient, der durch eine Wiedergeburt geleitet wird, die ihm Genesung bringt; oder aber das Kind ist der Gast, der willkommen geheißen wird, den man zum Mahl lädt und dem man aufwartet. Der Gast seinerseits kann aus der anderen Wirklichkeit kommen, bereit, das Opfer des ehrfürchtig dargebotenen Mahls entgegenzunehmen. Wie dem auch sei, der Grundplan bleibt der gleiche, und die vielen uns überlieferten Rituale sind voll von großartigen Variationen über das komplexe Grundthema menschlichen Lebens.

Rituale wandeln sich mit den Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt. In Sammler-Jäger-Kulturen füllt das Ritual die gesamte Fläche des Gemäldes aus. Mit der Hinwendung zum Gartenbau verengt sich notwendigerweise auch das Bild. Anfänglich drückt sich das nur in einer Akzentverschiebung aus, doch rückt bei den Ackerbauern das gemeinsame rituelle Mahl in den Vordergrund, während andere Aspekte zurücktreten. In der Stadtkultur schließlich erleben wir eine Umkehrung des Kommunikationsvorgangs: statt Einverleibung Entäußerung. Die bei städtischen Massen so beliebten Sportveranstaltungen sind eigentlich nichts anderes als enorme exorzistische Spektakel. Das einst im hellsten Licht erstrahlende Gemälde wird im Laufe der Zeit immer dunkler, bis nur noch ein schmaler Lichtstrahl die eine oder andere Einzelheit heraushebt.

Eine wichtige Begleiterscheinung des rituellen Geschehens gibt es, die noch mehr im verborgenen wirkt als die oben beschriebene Tiefenstruktur, nämlich die religiöse Trance und das damit verbundene ekstatische Erlebnis. Teilnehmer an einer Trance bzw. Ekstase werden nicht einfach in eine andere Gemütslage versetzt, sondern in einen gänzlich anderen Aspekt der Wirklichkeit hinübergeführt. Die sorgfältige Analyse von Ritualen erhellt, daß sie alle ein an die Teilnehmer gerichtetes Signal enthalten, das ihnen den Zeitpunkt des Eintritts in die veränderte Wahrnehmungsweise anzeigt. So hat der Musikethnologe Morton Marks bei der Untersuchung der Musik der Santería, einer auf den Karibischen Inseln und in New York verbreiteten religiösen Bewegung, in den Schlagzeugrhythmen eine kurze „Geräuschpause“ festgestellt. Vor diesem Signal befinden sich die Teilnehmer im alltäglichen Bewußtseinszustand, danach im veränderten. Bei den Apostolikern von Yucatán, einer Sekte der Pfingstbewegung, bei denen ich Feldforschung gemacht habe, wird dieses Umschlagen durch ein corito angekündigt, ein besonderes, kurzes Kirchenlied, in dem der Herr um sein Feuer gebeten wird, ein Hinweis auf das Hitzegefühl, das zusammen mit der religiösen Trance aufzutreten pflegt. Die Wolof zeigen dieses Moment im Ritual durch eine Änderung im Trommelrhythmus an.

Bei der Beschreibung religiöser Rituale wird selten auf dieses wichtige Moment hingewiesen. Das kommt erstens daher, daß westliche Beobachter vom Vorhandensein und der weiten Verbreitung religiöser Trancen, geschweige denn davon, wie sie sich im Einzelfall äußern, keine Ahnung hatten. Den meisten war außerdem überhaupt nicht klar, daß die anstrengenden Jugendweihen, wie wir sie in zahlreichen nichtwestlichen Gesellschaften antreffen, dem Zweck dienen, die Befähigung zum Eintritt in die Trance fürs ganze Leben zu gewährleisten. Andererseits dürfen wir annehmen, daß die Auskunft gebenden Angehörigen nichtwestlicher Gesellschaften eine derartige Unwissenheit bei ihren fremden Besuchern nicht vermuteten, weshalb sie die für sie selbstverständliche Sachlage nicht weiter erklärt haben. Später mußten sie dann erfahren, wie voreingenommen man im Abendland gegen die Trance war, was dazu führte, daß man die Signale, die auf sie hinweisen mochten, sorgfältig verbarg.

Ist die Einladung, in Trance zu treten, allgemein rituell verankert, dann durfte sie logischerweise auch in den Riten, die wir aus unserer eigenen Kultur kennen, nicht fehlen. In der Tat kann angenommen werden, daß etwa das Glockenläuten ein solches altes Signal darstellt. In der katholischen Kirche hat sich eine ganze Reihe derartiger Elemente erhalten. In den älteren Kirchen sind es das Halbdunkel, die flackernden Kerzen, der Duft des Weihrauchs, die Kirchenlieder, die sich ständig wiederholenden Gebete, das Knien. Selbst die so bezeichnende „Pause“ ist vorhanden, kurz vor der Wandlung, wenn sich Brot und Wein in das wahre Fleisch und Blut Christi verwandeln, ein Schritt in eine andere Wirklichkeit, der von Rechts wegen in Trance erlebt werden mußte. Durch Neuerungen, vor allem durch das 2. Vatikanische Konzil, ist das Erleben einer Trance im katholischen Ritus erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht worden. Moderne Kirchen sind hell, die Kerzen haben einen Kunststoffschirm, der das Flackern verhindert, oder sind überhaupt durch elektrisches Licht ersetzt worden, und Weihrauch wird nur noch selten verbrannt. In manchen neueren Kirchen gibt es nicht einmal Bänke zum Knien. Die früher unübersetzten lateinischen Formeln, die den Eintritt in die religiöse Trance ungehindert geschehen ließen, weil sie keine gedankliche Teilnahme erforderten, werden heute in der jeweiligen Landessprache rezitiert.

Vor allem, und das ist wohl das wichtigste, wird das Erlebnis selbst nicht mehr erwartet. Ein österreichischer Freund und früherer Priester hat mir erzählt, wie er als Seminarist immer mit einigen Freunden zusammen in der Kirche geblieben sei, um etwas herbeizuführen, was sie sich recht vage als mystisches Erlebnis vorstellten, indem sie sich ein religiöses Symbol oder einen entsprechenden Gedankeninhalt vergegenwärtigten. Es gibt eine starke katholische Tradition der mystischen Versenkung, und Mitglieder der sog. Dorpatschule, vorwiegend protestantische Psychologen, haben sich drei Generationen lang ebenfalls für diesen Akt der religiösen Erfahrung interessiert. Der Zugang ist allerdings langst nicht so wirksam wie durch Sinnesstimulation; zudem wurden entsprechende Versuche junger Seminaristen von ihren Lehrern und Seelsorgern meist aktiv unterbunden. Spätestens seit der Aufklärung ist das religiöse Erleben vom Überlegen und Nachdenken über das Religiöse verdrängt worden.


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